Umzug nach Fulda
Schon vor Kriegsende war ich durch meine Großeltern und andere Verwandte mit Fulda verbunden. Ich erlebte die Bombenangriffe aber nicht direkt, das Ende des Kriegs sowie den Einzug der Amerikaner vielmehr im Dorf Hutten. Die Aufgabe der Dienstwohnung stand nach dem Tod meines Vaters an. Der daher folgende Umzug nach Fulda wurde mit Unterstützung meines Onkels Joseph Schmitt ermöglicht. Das Familienhaus An der Waides 11 gehörte inzwischen meiner ältesten Tante, der Lehrerin Maria Schmitt.
Politische Situation
Die allgemeine politische Situationwar für mich als Kind, das die Welt erst kennenlernt hat, schwer zu erfassen und kaum zu beurteilen. Ich habe aber vor dem Krieg wie nach Kriegsende manche, die Situation beherrschenden Dinge erlebt:
- Unsicherheit und Ratlosigkeit
- politische, oft verdeckte, Meinungsverschiedenheiten
- Angst, auch vor den Siegern
- Hunger und allgemeine Not, auch die wachsende Wohnungsnot
- Der Überlebenswille, vorrangig vor dem politischen Engagement
Rückblickend habe ich den Eindruck, als habe nicht unbedingt das Kriegsende den großen Einschnitt gebracht, zu vieles war im Grunde ungeklärt geblieben. Die in den Familien, auf der Straße, unter den Nachbarn und in der Schule geäußerten Meinungen ergaben eine bunte Mischung, ein oft merkwürdiges Konglomerat. Mir schien es schon damals, als bildeten die Jahre von 1939 bis zur Währungsreform 1948 eine Einheit – in dem ganzen Zeitraum gab es eine Gesellschaft ohne deutliche Konturen. Es mag sein, dass nur ich das als Kind ohne andere Erfahrungen so erlebt habe.
Not und Mangel
Dass der Krieg mit seinen Bombenangriffen und vielfältigen Bedrohungen beendet war, brachte natürlich allgemein eine gewaltige Erleichterung, doch war ein neuer Aufbruch nur in Ansätzen spürbar. Zu groß war die allgemein erlebte Not, die dem massenhaften Tod gefolgt war. Noch lange Zeit musste ich beim Einkaufen in der Leipzigerstraße etliche Bombentrichter auf der Straße umgehen. In der Nachbarschaft gab es ganz oder teilzerstörte Häuser, deren Eigentümer sich selbst an die Wiederherstellung machten. Auch an unserem „unzerstörten“ Haus war eine Wand eingedrückt, ein Teil einer Decke bröselte, viele zerbrochene Fensterscheiben waren durch Gläser von ausgerahmten Bildern oder durch Kartons ersetzt worden, erloschene Glühbirnen wurden so lange vorsichtig geschwenkt, bis die Glühfäden wieder Kontakt hatten und funktionierten. Seile, auch Schnürsenkel gewann man aus aufgetrennten Vorhängen oder anderen Stoffen. Papier war Mangelware – viele Papierwaren, auch Toilettenpapier, waren nur gegen dieselbe abgewogene Menge Altpapier zu erhalten. Lebensmittel wurden nur gegen die behördlich zugeteilten Marken abgegeben. Das Geld war wenig wert, kaum etwas gab es frei zu kaufen.
Alltagsleben
Das Leben war in dieser Zeit ohnehin schwieriger, weil die meisten elektrischen Haushaltsgeräte(Waschmaschinen, Spülmaschinen, Kühlschränke etc.) erst in den folgenden Jahrzehnten entwickelt und in den meisten Haushalten eingesetzt wurden. Der Zeitaufwand für die alltäglichen Besorgungen war erheblich, weil Einkäufe fast immer mit Schlange-Stehen verbunden waren. Die Verhältnisse dieses armseligen Lebens würden heute als menschenunwürdig bezeichnet. In der verbreiteten Hoffnung auf materiellen Aufschwung erkannte wohl kaum jemand die riesigen Gefahren, die der zunehmende Wohlstand für unsere Erde und ihre Ressourcen mit sich bringen würde, dass damals die Basis für eine möglicherweise dauerhafte Vernichtung des menschlichen Lebens auf der Erde gegründet wurde.
Kinderspiele
Wir Kinder spielten auf der Straße – Autos gab es fast keine, auch nur wenige Fahrräder. Beliebt bei Jungen und Mädchen war der „Völkerball“, außerdem „Fangen“, „Verstecken“ sowie „Räuber und Gendarm“. Auf der – noch nicht geteerten – Straßenfläche gab es unter verschiedenen Hüpfspielen das „Krieg erklären“, wobei ein Kreis in Sektoren (Länder) eingeteilt wurde und Spieler, die eine Kriegserklärung mit einem guten Sprung begleiteten, einem anderen Spieler ein Stück seiner Landfläche abnehmen konnten – bei kriegerischem Anschein enthielt das eine Aufforderung zu fairem Verhalten. Im Sommer gingen wir zum „Rosenbad“ oder zu den angrenzenden Fuldawiesen mit dem kostenlosen Freibad im Fluss. Im Winter bot der Südhang des Frauenbergs eine beliebte Bahn zum Schlitten fahren, und oft knackte das Eis auf dem Weiher im Schlossgarten unter den zahlreichen Schlittschuhläufern. Beliebt waren auch die vielfältigen Unterhaltungs-Angebote des amerikanischen Militärs in einer alten Villa in der Marienstraße, dem GYA, und nicht zu vergessen: die spannenden, oft gefährlichen „Spiele“ mit irgendwo gefundener Munition.
Tauschhandel
Unsere Familie hatte zunächst kaum Einkünfte, da zunächst das Verfahren zur Entnazifizierung meines im Krieg gefallenen Vaters durchgeführt und die sehr geringen Hinterbliebenenbezüge bewilligt werden mussten. Wir hatten jedoch – im Gegensatz zu den meisten Ausgebombten und Heimatvertriebenen – den Vorteil, über einen gut eingerichteten Haushalt und etliche Gegenstände aus familiären Nachlässen verfügen zu können. Das war eine Basis für den damals blühenden Tauschhandel – oft „Schwarzhandel“, da Lebensmittel damals nicht getauscht werden durften. Das bot aber auch manchen Bauern die Chance, zu begehrten Waren zu kommen. Tauschgeschäfte wurden über Annoncen in der Zeitung oder in einem Lädchen in der Marktstraße angebahnt – wollte bzw. durfte man die gewünschten Waren nicht nennen, so annoncierte man „Tausch gegen Vereinbarung“. Im Übrigen wurde alles sorgfältig verwertet, weit entfernt von der „Wegwerfgesellschaft“. So trug ich viele Jahre lang die umgearbeiteten Kleidungsstücke meines Vaters und meines Großvaters auf. Als Bote für die kaum erhältliche Schokolade lernte ich auch Juden, die den Holocaust überlebt hatten und vorübergehend in der alten Rabbinervilla lebten, kennen – von der begehrten Schokolade bekam ich nur ausnahmsweise ein winziges Stück.
Hunger
Der zunehmende Hungermachte findig, beim Tauschhandel, aber auch bei manchen Hamster-Touren. Kleine Gärten wurden intensiv genutzt. Der benachbarte Garten von Professor Vonderau wurde von einem seiner Enkel zu einer kleinen Hühnerfarm mit Hundeschutz umfunktioniert – dorthin brachte ich täglich Kartoffelschalen und andere Essensreste als Futter. Einmal bestand das Essen zuhause nur aus einer Scheibe trockenem Brot mit ein paar Krümeln Zucker, dazu die bange Frage, ob es noch schlimmer kommen werde. Da war die aus Amerika gespendete Schulspeisung ein Segen: In den großen Pausen konnten wir uns einen Schöpflöffel voll Suppe oder Brei in eine mitgebrachte Blechdose geben lassen. Daran denke ich immer dankbar, wenn bei uns für notleidende Kinder in anderen Ländern gesammelt wird. Die Nahrungssuche führte auch zu erlebnisreichen Ausflügen in die umliegenden Wälder: Gruppen von Nachbarn und Verwandten zogen aus, um Heidelbeeren oder Bucheckern zu sammeln. Meine letzte Hamstertour führte mich im Juni 1948, am Tag vor der Währungsreform, in mein altes Heimatdorf Hutten: Mit ein paar Tüten Erbsen und Mehl und einer Kanne Milch fuhr ich von Elm mit dem Zug zurück, musste beim Umsteigen auf dem überfüllten Bahnsteig in Schlüchtern auf den ebenso überfüllten Zug aus Frankfurt warten und kam doch noch am Abend zuhause an. Kurze Zeit später war das Wunder geschehen: Im Metzgerladen lautete jetzt die Frage: „Darf’s ein Stückchen mehr sein?“. Es war der Beginn einer noch kaum vorstellbaren neuen Zeit.
Politische Veränderungen
Das war auch die Basis für große politische Veränderungen, die 1949 mit den neuen staatlichen Gebilden „Bunderepublik Deutschland“ und „Deutsche Demokratische Republik“ begannen. Bis dahin war nach meinen Eindrücken die Gesellschaft – Nachbarn, Schüler, Verwandte – völlig durchmischt. Das familiäre Umfeld meiner Mutter war kleinbürgerlich-katholisch geprägt, politisch dem „Zentrum“ nahe stehend. Mein Onkel Joseph Schmitt war (zusammen mit dem FZ-Redakteur Sauer) als Antifaschist im Windthorstbund aktiv und wurde Anfang 1933 aus dem Schuldienst entlassen; daher wurde er gleich nach Kriegsende als einer der wenigen unbelasteten Lehrer von der amerikanischen Militärregierung als Regierungsrat in Wiesbaden eingesetzt. Wegen seiner großen Familie nahm er aber bald das Angebot der Stelle eines Schulrats in Fulda an – an seinem Haus in der Parkstraße 5 hing das Schild „OFF LIMITS“.
Hingegen war mein Vater (erst nach 1933) in die NSDAP eingetreten, offenbar ohne über deren verbrecherischen Tendenzen im Bild zu sein. Eine Rolle spielte sicher seine über zehn Jahre dauernde Arbeitslosigkeit (bis 1932), verbunden mit dem Eindruck eines verarmten, halb verwahrlosten Dorfs bei Beginn seines Schuldienstes. Vielleicht hatten auch die militärische Tradition seines Vaters, der in Friedenszeiten bei der preußischen Garde gedient hatte, wie auch ein Hang zur Neoromantik dabei einen Einfluss. Vieles ist aus heutiger Sicht schwer zu verstehen – es sei denn, man schaut auf den horrenden Unsinn, der auch heutzutage auf breiter Ebene geglaubt oder für wichtig gehalten wird. Viele Lehrer, die nach dem Krieg bei uns ein und aus gingen, gaben ein gemischtes Bild ab. Die meisten äußerten sich politisch eher zurückhaltend. Meine Mutter berichtete aber über so manche plötzlich verblasste Begeisterung in der NS-Zeit. Solch eine undurchsichtige Mischung gab es auch in den damals überfüllten Schulklassen; über alte Adressbücher erfuhr ich manches über die Familien meiner Mitschüler, deren Väter teilweise hohe Posten in der NSDAP oder SS oder SA hatten. Die Entnazifizierungsverfahren waren eifrig begonnen worden, verliefen jedoch bald irgendwie im Sande – verständlich, wenn auch oft recht problematisch.
Die Wahlen führten dann aber bald zu neuen politischen Auseinandersetzungen, bei denen „linke“ Parteien eine große Rolle spielten. Im Familienkreis erlebte ich ziemlich unbefangene Diskussionen, war aber als junger Schüler selbst noch wenig davon berührt. Das änderte sich mit den Jahren, wobei um 1970 meine Aufgaben im Regierungspräsidium Darmstadt – Entschädigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, insbesondere der Juden – wie auch die Studentenbewegung, eine wichtige Rolle spielten.
Musik
Meine persönliche Entwicklung als Schüler war entscheidend geprägt von meinem Interesse für Musik. Schon in der Quinta (6. Klasse) war mein Musiklehrer Heinz von Schumann auf mich aufmerksam geworden, als ich ihm meine ersten bescheidenen Kompositionen vorlegte; er hat mich in der Folgezeit sehr gefördert. Ich nahm alle sich mir bietenden Gelegenheiten zum Besuch kultureller Veranstaltungen wahr. Es gab bald Konzerte im Amerikahaus am Universitätsplatz, Veranstaltungen der Volkshochschule (im Realgymnasium, Leipzigerstraße) und im alten Kolpinghaus (Florengasse). Das Musikleben der Stadt entwickelte sich mit Musiker-Persönlichkeiten wie Heinz von Schumann (als Chordirigent und Leiter des „Fuldaer Kammerorchesters“ mit Karl-Albrecht Herrmann als Konzertmeister), Fritz Krieger als Dommusikdirektor, Kurt Freitag als Organist der Christuskirche, Hilmar Höckner als Musikpädagoge und vielen anderen. An das Musikleben und die Theaterveranstaltungen während meiner Gymnasialzeit habe ich noch viele prägende Erinnerungen.